Text:
Holger Wicht
Fotos: Damian Collard
Model: Marcel Schlutt
Eigentlich war bei Robert alles in
bester Ordnung. Ein Traumjob als Redakteur bei einem privaten Fernsehsender,
eine schöne Wohnung mitten in der Schöneberger Szene, ein schickes
Fitnessstudio gleich um die Ecke, und am Wochenende feierte er mit seinen
Freunden im GMF oder im Berghain. Ein schönes
schwules Leben. „Leider fühlte es sich überhaupt nicht mehr danach an“, sagt
Robert mit einem bitteren Lächeln, „ich war total gestresst.“
Robert fühlte sich ausgebrannt – mit 29. Der Redaktionsleiter lud ihm immer
mehr Arbeit auf, 12-Stunden-Tage waren keine Seltenheit.
Robert ärgerte sich immer mehr, wenn er mal wieder eine Verabredung absagen
musste, und er hatte ein schlechtes Gewissen, wenn er zu spät loskam, um noch
zur Fettverbrennung aufs Laufband zu steigen. Ins Nachtleben startete er nicht
selten direkt vom Schneidetisch aus. Dann sprang er fix auf dem Redaktionsklo
in frische Unterhosen und ein sauberes T-Shirt.
Zu Hause nisteten derweil die Wollmäuse in Schmutzwäschebergen. „Ich hab das
alles nicht mehr geregelt gekriegt“, sagt Robert.
Vielleicht hatte Robert keine Chance. Job, Nachtleben, Haushalt – wie soll man
der klassischen schwulen Dreifachbelastung standhalten? So mancher Single fühlt
sich ähnlich überfordert wie eine allein erziehende Mutter. Und in
Partnerschaften wird’s nicht unbedingt leichter: Wenn beide arbeiten, beschert
es oft zusätzlichen Stress, Zeit für die Zweisamkeit freizuschaufeln. Lohn- und
Hausarbeit aufzuteilen wie in einer traditionellen Ehe ist im 21. Jahrhundert
selbst für die meisten Heteros keine Option. Modernes Leben bedeutet eben: Es
gibt keine Patentrezepte mehr; jeder muss sehen, wie er klarkommt.
Damit kennen sich Schwule ja immerhin aus. Ihr Erwachsenenleben beginnt
schließlich schon mit Mega-Stress – beim Coming-out. Leider wird danach nicht
unbedingt alles einfacher. Denn die Homowelt verheißt
zwar Spaß und Freiheit, verursacht aber auch selber jede Menge Stress.
Ortstermin im GMF. Es ist 23 Uhr am Sonntagabend. Nur vereinzelt hocken schon
Nachtschwärmer in den niedrigen Kunstledermöbeln des Café Moskau. Während die
Mehrheit der Nation sich für die kommende Woche fitschläft, stehen die
GMF-Gäste noch zu Hause vor dem Spiegel, um sich schick zu machen für die
Nacht. GMF-Macher Bob Young, bekennender Nachtmensch, erfreut sich bester
Laune, steht aber unter Spannung: Mitte des Jahres läuft der Mietvertrag im
Moskau aus, und einen neuen wird es wahrscheinlich nicht geben. Vielleicht
zieht das GMF dann in die Katakomben des Admiralspalastes, aber noch ist nichts
in Sack und Tüten. „Das ist Lowgrade- Stress“, sagt
Bob, der aus Amiland stammt, grinsend. Ein bisschen
Druck gehört für ihn zur notwendigen Betriebstemperatur. Und was ist „too much”? „Wenn du irgendwas
sein musst, was du nicht bist”, sagt Bob.
„In der Szene ist zum Beispiel alles materialis -
tisch ausgerichtet, auf Körper und Mode. Davon hängt ab, ob du Anerkennung
bekommst und dich als begehrenswert empfindest. Wenn du nicht schön und jung
bist und nicht täglich ins Fitnessstudio rennst, bist du nicht perfekt.” Selbst
wer das alles zeitweilig hinbekommt, zerschellt irgendwann an der Angst vor dem
Älterwerden. „Mit Mitte zwanzig haben die meisten ihre erste Panikattacke.” Die
Diagnose des Party-Machers bestätigt der Soziologe Michael Bochow,
Experte für die Lebensstile schwuler Männer: „Der Druck, den richtigen Körper
und angesagte Kleidung mitzubringen, ist enorm.” Einen Grund dafür sieht Bochow im Männlichkeitskult. „Noch immer fühlen sich viele
Schwule durch Diskriminierung in ihrer Geschlechts identität
verunsichert und kompensieren das durch besonders männliche
Selbstinszenierung.”
Auch in den alternativen Szenen, die sich von Körperkult und Markenfetischismus
abgrenzen, ist nicht alles easy; sie pflegen stattdessen andere Körpernormen
wie extreme Schlankheit. Den Modediktaten kann man dort finanziell zwar
leichter gerecht werden, weil zum Beispiel eine Second-Hand-Skijacke
ausreicht. „Dafür wird aber verlangt, dass man eine bestimmte Coolness an den
Tag legt“, sagt Bochow.
Wo auch immer: Ein angeschlagenes Selbstwertgefühl scheint beim schwulen Kampf
um Marktwerte eine wichtige Rolle zu spielen. So mancher Schwule plagt sich im
Job besonders heftig ab, um sich gegen Angriffe homophober Chefs und Kollegen
unangreifbar zu machen. Gekränkte Seelen versuchen sich im Partyleben zu
heilen, indem sie als Königin der Nacht aufrauschen – und machen damit alles
noch schlimmer, weil sie die Maßstäbe für sich und andere bekräftigen. Bob
Young bringt es auf den Punkt: „Auch die Leute, die die ganzeMuskel-Geschichte
durchziehen, fühlen sich doch oft schrecklich. Wer versucht perfekt zu sein,
wird irgendwann daran leiden, weil niemand immer perfekt sein kann.“
Der Berliner Diplom-Psychologe und Anti- Stress-Trainer **** kennt das Problem
aus Seminaren, die er im schwulen Tagungshaus Waldschlösschen bei Göttingen
anbietet. „Manche der Teilnehmer halten sich für zu dick oder zu hässlich, oder
sie glauben, ihr Schwanz sei zu klein“, sagt ****. Vor allem Jüngere fühlen
sich nach ****s Erfahrungen zudem gegängelt von der Ausrichtung vieler
Szenebereiche auf Sex und Partyleben. Diese Jugendlichen suchen kurz nach dem
Comingout ihre Identität und nicht selten den ersten Mann fürs Leben. Die Szene
ist ihre Hoffnung, und so fällt es schwer, nachts um drei zwischen entblößten
Oberkörpern und unter flimmernden Pornobildschirmen ein Gefühl von Geborgenheit
zu entwickeln. Eine Hauptrolle im falschen Film – auch das kann Stress sein.
Überhaupt: „Die langen Nächte der Homos müsste die
Weltgesundheitsorganisation eigentlich verbieten”, sagt Michael Bochow. Er meint das im Scherz, weiß aber auch, dass das
exzessive Nachtleben vielen auf Dauer schlecht bekommt. „Die Leute suchen immer
weiter nach Kicks und finden deshalb kein Ende. Die Drogen dienen oft gar nicht
mehr dem Spaß, sondern nur dem Zweck, durchzuhalten.” Bis man nach dem letzten
Beat noch in die Sauna fährt. Bis man als einer der Letzten im Dark - room steht und hofft, dass doch noch einer kommt. Bis es
weh tut.
Warum gehen manche so weit? Die Bedürfnisse hinter
dem gierigen Verlangen können grundverschieden sein. Der eine fühlt sich nur
liebenswert, wenn er noch einen abbekommt. Ein anderer will Probleme bei der
Arbeit verdrängen – Vergnügungssucht kann durchaus ein misslungener Versuch der
Stressbewältigung sein. Nicht zuletzt gilt es in der Szene als cool, bis zum
Abwinken zu feiern. Den Depri- Montag macht dann
jeder für sich durch. Natürlich gibt es auch Leute, die Sex and
Drugs und Party-Life relativ gut im Griff haben und nicht darunter leiden. „Die
Leute, die kein Ende finden, sind eine kleine Gruppe”, sagt Bob Young. Und ****
betont: „Stress ist etwas sehr Individuelles, man kann keine allgemeingültigen
Aussagen darüber machen, was gut und was schlecht ist.“ Lange Nächte in qualmgesättigter Luft zwischen wummernden Boxen sind für
den einen Psycho-Terror – und für den anderen Erholung
pur. Bei den meisten liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Sicher ist: Man
braucht ein gesundes Selbstbewusstsein, um sich dem Leistungsdruck der Szene zu
entziehen und selber zu entscheiden, was gut für einen ist – statt einfach zu
tun, was die Mehrheit zu bevorzugen scheint. Sonst wird Stress leicht zum
Dauerzustand. Und genau das darf nicht passieren. Denn Stress empfindet der
Mensch normalerweise in Ausnahmesituationen. Bei Gefahr steigert Stress die
Leistungsfähigkeit. Die Atmung wird schneller, der Puls beschleunigt, um die
Sauerstoffversorgung zu erhöhen, Adrenalin macht wach und fit. Eine gute
Strategie für Notfälle – aber dauerhafter Stress führt zu Nackenverspannungen
und Rückenschmerzen, zu Herzproblemen und Depressionen.
Robert leidet unter nächtlichem Zähne knirschen, die innere Verkrampfung lässt
ihn die Kiefer aufeinandermahlen. Seine Zahnärztin
hat ihm eine Beißschiene aus Kunststoff zum Schutz der Zähne verschrieben, aber
gegen die Verspannungen hilft die natürlich nicht.
Bei Michael waren es Herzrasen und Schlafstörungen.
Der 47-jährige Berliner fuhr zu einem von ****s Seminaren, um herauszufinden,
was dahintersteckte. Als professioneller Koch in einem Community-Projekt für
Menschen mit HIV geriet er immer wieder mit den Sozialarbeitern im Team
aneinander. Wie zackig wird gearbeitet, wie viel wird vorher diskutiert? Erst im
Seminar wurde Michael klar, dass solche Interessenkonflikte unvermeidlich
waren. Nun sind die Meinungsverschiedenheiten zwar nicht beseitigt, aber
Michael kann seine Interessen besser vertreten. „Mit bewuss
- tem Stress komme ich sehr viel besser zurecht als
mit einer unklaren Situation.” Vor allem aber erkannte Michael, dass der Stress
ihn längst mehr im Griff hatte, als er glaubte. Seinen Job-Frust kompensierte
er nämlich mit Sex; er zog – ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten
und Vorlieben – durch Bars und Saunen und suchte Entspannung in schnellen
Begegnungen. Zuerst fühlte sich das ganz gut an. „Es hat ein bisschen gedauert,
bis ich kapiert habe, dass mich das alles eigentlich nicht befriedigt hat.“ Bei
Robert dauerte es länger, bis er imstande war, etwas zu ändern. Den Stress bei
seinem TV-Job sah er als branchenüblich, also natur -
gegeben, auf das Partyleben wollte er nicht verzichten. Schließlich schlug ihm
ein Freund vor, sich zumindest eine Putzfrau zu suchen.
„Seltsam, dass ich nicht selber drauf gekommen war”, sagt Robert rückblickend.
Der gleiche Freund überzeugte ihn, nur noch zweimal pro Woche ins Fit nessstudio zu gehen. „Zuerst hatte ich Angst, dass mir nach
ein paar Tagen der Bauch über den Gürtel hängt”, sagt Robert lachend. „Aber
dann habe ich gemerkt, wie entspannend es war, einfach mal einen Abend nichts
zu machen.” Als Nächstes steht nun ein Termin mit dem Redaktionsleiter auf der
Agenda. Mal sehen, was geht.
Meistens geht mehr, als man denkt. Das ist eine wichtige Botschaft von ****s
Seminaren. Schließlich ist die schwule Welt immer vielfältiger als der
Ausschnitt, in dem man sich bewegt. „Man darf nicht aus den Augen verlieren,
dass viele Schwule kaum Kontakt zu diesen stressigen Szenebereichen pflegen”,
weiß auch Michael Bochow. In anderen Ecken der Szene
gelten ganz andere, jeweils eigene Gesetze, sei es nun im schwulen Sportverein,
beim Tanzkurs im „Café Fatal” oder im Freundeskreis.
Wer seinen Aktionsradius erweitert, kann möglicherweise seine einsamen
Online-Stunden bei der Partnersuche auf Gayromeo –
auch ein häufiger Stressfaktor –deutlich reduzieren. Wer notorisch ausgeht, um
nach Sex zu suchen, kann bei Gayromeo hingegen
Entlastung finden. Es ist alles immer eine Frage der individuellen Situation:
Manche Paare sollten es möglicherweise mit einer offenen Beziehung ver suchen, andere täten gut daran, die Beutezüge außerhalb
der Ehe einzuschränken.
Manchmal sind ein paar geschickte Denkanstöße notwendig, um herauszufinden, wo
das Problem liegt und ob man die Sache auch anders sehen könnte. Wenn zum
Beispiel einer von ****s Seminarteilnehmern glaubt, ihn werde nie jemand
lieben, wenn er sich keinen Waschbrettbauch antrainiert, stellt der
Seminarleiter einfach die Frage, ob das denn wirklich stimmt. Dann stellt sich
meistens heraus, dass der Betroffene durchaus Menschen um sich hat, die ihn
lieben.
Problem erkannt, okay, aber gebannt ist es damit noch nicht unbedingt. Oft ist
es nötig, von Gewohnheiten Abschied zu nehmen und Neuland zu betreten. Ausreden
darf man sich nicht durchgehen lassen, wenn man wirklich rauswill
aus dem Stress. „,Ja, aber ...’ gilt nicht”, sagt
****. „Prinzipiell gibt es immer nur zwei Möglichkeiten: Entweder man ändert
etwas, oder man lernt mit der Situation zu leben, wie sie ist.“ In schwierigen
Fällen empfiehlt er durchaus auch mal eine Psychotherapie. Oft aber genügt es,
sich klar zu überlegen, was man erreichen möchte und – ganz wichtig! – was
realistisch ist. Fünf Kilo abzunehmen ist für viele möglich, für immer aussehen
zu wollen wie mit 20 sollte man sich beizeiten abgewöhnen. Wer weiß, was er
will, sollte sich einen verbindlichen Zeitplan erstellen.
Wobei gut Ding manchmal Weile haben will. „Man kann zum Beispiel mit der Zeit
lernen zu sagen: Ich muss nicht unbedingt allen 200 Partygästen gefallen”,
schlägt Michael Bochow vor und fügt fröhlich hinzu:
„Mir persönlich reichen 10.”
In der nächsten Siegessäule: Was Lesben stresst